Tatort: Dimension, Inaara – Seite 2

Inaara war für die Angestellten ein aussergewöhnliches Zuhause. Für die Hotelgäste war der Urlaub auf der seltsamen Insel ein spannendes Abenteuer.

Frederick Saarinen hatte hier seinen Tod gefunden.

Er lag neben seinem Schreibtisch auf dem Rücken. Seine Kehle war durchgeschnitten worden. Sein lebloser Körper lag in einer grossen Blutlacke. Das Gesicht war blass und die Augen halboffen. Seine Hände waren völlig verkohlt.

Kendra wählte hastig mit ihrem Handy die Nummer ihres Assistenten. Noch während das Telefon läutete überlegte sie fieberhaft, was sie jetzt eigentlich tun sollten. Die Situation war nicht einfach, da die Insel möglicherweise keinem Staat angehörte. Waren sie selbst die zuständige Polizei?

„Hallo?“ meldete sich Sebastian. Kendra antwortete nicht sofort.

„Kendra, bist du das?“ fragte Sebastian, der am Display sah, dass von ihrem Handy angerufen wurde.

„Ja, ich bin’s“, brachte sie nun hervor. „Bitte komm schnell in Herrn Saarinens Büro. …und bring Kelly und Sandra mit …und Dustin …und ohne viel Aufsehen. Aber sofort!“ Gegen Ende ihrer Anweisungen hatte ihre Stimme panisch geklungen .

„Was ist los?“ fragte Sebastian beunruhigt.

„Mach einfach was ich dir gesagt habe!“ schrie Kendra ins Telefon. Sie fühlte sich überfordert und bemühte sich Ruhe zu bewahren.

Das Hotel Dimension konnte es sich leisten mehr Personal als nötig einzustellen.

Auf Inaara waren auch Spezialisten von Berufsrichtungen zu finden, die für eine Hotelinsel ungewöhnlich waren. Die Hotelleitung beschäftigte auch Zoologen, Meteorologen, Hundeschlittenführer und eben eigene Kriminalisten.

Sebastian war aufgeregt und beunruhigt. Er tat was ihm Kendra gesagt hatte und überlegte was passiert sein könnte, dass so viele Kollegen aus verschiedenen Abteilungen nötig sein würden. Warum sollte er Kelly und Sandra von der Spurensicherung mitbringen? Wieder eine Lappalie, zu der die eigentlich übertriebene Laborabteilung hinzugezogen werden sollte oder vielleicht ein richtiger Einbruch? Und warum Dustin von der Rechtsabteilung?  Er rief die verlangten Personen an, während er sich auf den Weg ins Büro des Chefs machte.

Sandra, eine ehemalige Polizistin und Kelly, eine Medizinerin arbeiteten mit einigen wenigen Mitarbeitern in einem gut ausgestatteten Kriminallabor, das sich im Logistik- und Personalteil der Insel befand. Da das Hotel viel Gewinn machte, konnte der Hoteldirektor alle möglichen – wenn auch übertriebenen und fast lächerlichen – Extras auf der Insel einrichten lassen.

Unter anderem auch ein Kriminallabor, das bei verschwundenen Handtaschen oder aufgebrochenen Safes der Sicherheitsabteilung bei den Recherchen half. Solche Fälle kamen allerdings eher selten vor.

Als Sebastian den Tatort betrat wurde ihm übel. Glücklicherweise hatte er noch nicht gegessen. Kendra gab ihm ein Glas Wasser.

„Setzen wir uns einfach im Vorraum hin und warten auf die anderen“, meinte sie.

Es tat ihr leid, dass sie ihn nicht an der Tür vorgewarnt hatte, aber sie war noch immer fassungslos neben der Leiche gestanden, als Sebastian hereingekommen war.

Gemeinsam setzten sie sich nun in den Vorraum des Büros und Kendra wunderte sich wo eigentlich Frau Potter, die Sekretärin vom Chef war.

Sebastian hatte auch nicht sehr viel praktische Erfahrung. Er wurde bei einem Einsatz als Polizist angeschossen und war lange arbeitsunfähig gewesen. Wieder genesen, hatte er von Inaara erfahren und war vor einem halben Jahr auf die Insel gekommen. Sebastian und Kendra hatten sich von Anfang an gut verstanden. Sie leiteten gemeinsam die Sicherheitsabteilung und genossen ihren bisher ruhigen Job.

Nach einiger Zeit kamen endlich die restlichen Mitarbeiter an. Kendra warnte sie in einem halbwegs gefassten Ton:

„Es ist etwas schreckliches passiert. Frederick Saarinen wurde ermordet. Seine Leiche liegt im Büro und sieht furchtbar aus.“ Mit einer Handbewegung wies sie die anderen an, nun in das Büro einzutreten. Diesmal hatte sie ihre Kollegen vorgewarnt, bevor sie den Raum mit der Leiche betraten.

Kelly schrie kurz auf, als sie die schrecklich zugerichtete Leiche sah. Die Vorwarnung hatte nichts genützt. Glücklicherweise befand sich das Büro am hintersten Ende des Ganges und war durch zwei Türen vom Rest der Etage getrennt. Die meisten Hotelgäste waren am Vormittag irgendwo auf der Insel unterwegs. Es war unwahrscheinlich, dass jemand in einer der Suiten den Schrei gehört hatte.

Kelly beruhigte sich allmählich wieder.

Sandra war ebenfalls sichtlich mitgenommen, hatte aber in den Jahren im Morddezernat schon einiges gesehen. Sandra war 39 und hatte nach ihrer Scheidung vor einem halben Jahr auf Inaara einen neuen Lebensabschnitt begonnen.

Sandra blickte Kendra erwartungsvoll an.

Kendra bat die anderen wieder in den Vorraum zu gehen, um die Lage zu besprechen.

„Dustin, wer ist bei einem Mord hier zuständig?“ fragte Kendra.

„Ich glaube wir selbst“, gab er unsicher zurück und fuhr fort: „Ich weiss, dass Inaara tatsächlich keinem Staat angehört. Laut unseren Unterlagen handelt es sich um eine völlig unabhängige Privatinsel, die zum Grossteil Anton Saarinen, dem Bruder von Frederick gehört. Die genauen Besitzverhältnisse sind etwas unklar und ausser unserem Direktor hatte keiner der Angestellten Kontakt mit dem oder den Besitzern. Aber seine Kinder werden das wohl wissen…. Wie das meiste auf Inaara ist das immer sehr geheimnisvoll geblieben. Ich wüsste nicht, an wen wir uns wenden könnten. … Meines Wissens gab es hier noch nie ein derartiges Gewaltverbrechen.“

„Also sollen wir das ganze selbst in die Hand nehmen?“ Kendra blickte fragend in die Runde.

„Wo sollen wir anfangen? Was genau machen wir jetzt als erstes? Wer ist denn verdächtig?“, wollte Sebastian wissen.

Sandra meldete sich zu Wort: „Wir müssen klären wer ein Motiv hatte und auch die Möglichkeit. Die Spuren am Tatort werden hoffentlich einiges ergeben, das für die Ermittlungen wichtig ist. Und wir müssen Zeugen vernehmen. Wer den Direktor zuletzt gesehen hat und so weiter. … und es muss jemand Sarah, Dean und Alec und Lisa sagen.“

Sarah, Dean und Alec waren die Kinder des Opfers, Lisa die Nichte. Alle lebten hier auf der Insel.

Man war sich schnell einig, dass Kelly und Sandra den Tatort und die Leiche untersuchen sollten. Dustin sollte den Bruder des Verstorbenen ausfindig machen und Sebastian die Überwachungsbänder besorgen.

Kendra übernahm die Verständigung der Angehörigen.

„Ist Isabelle schon zurück?“ fragte Kendra.

Isabelle war die junge, attraktive Freundin des Direktors und öfter ein paar Tage auf einer Schönheitsfarm, von der sie dann mit fülligeren Lippen oder grösserer Oberweite zurückkehrte.

Sebastian verneinte. Es zählte zu seinen Aufgaben, die Passagierlisten zu kontrollieren.

Er wusste immer wer angekommen und wer abgereist war.

Er war sich sicher, dass Isabelle noch nicht wieder auf Inaara war.

Sie einigten sich vorerst möglich wenige Leute über den Mord zu informieren

– vor allem keine Hotelgäste sollten davon erfahren.

„Ich werde ausserdem das Wachpersonal verstärkt patroullieren lassen“, beschloss Kendra.

Nachdem sie die Aufgaben, die ihnen spontan einfielen, untereinander verteilt hatten, vereinbarten sie ein späteres Treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

Immer noch geschockt und von der Situation etwas überfordert, machte sich jeder an seine Arbeit.

… weiter